Donnerstag, 30. Dezember 2010

Anthropologie, - überall!

Die Vorweihnachtszeit ist die Zeit, in der kaum Zeit zum Atmen bleibt; tausend Dinge müssen erledigt, Geschenke müssen gekauft, verpackt und verschenkt werden; die einzigen Ruhepole dieser Zeit mögen die zahlreichen Weihnachtsfeiern sein, die in ihrer Kumulation jedoch irgendwann nicht mehr besänftigen; letztlich beginnt die Woche kurz vor Weihnachten und man möge denken, der Trubel lege sich; doch vielleicht fährt man mit der Bahn - dann fällt ein nicht zu unterschätzender (und kaum einzuschätzender) Risikofaktor ins Gewicht; eine ewig unbekannte Variable.

Zum ersten Mal in meinem Leben muss ich zu Weihnachten eine längere – und aufregende – Reise antreten, um nach Hause zu gelangen. Der Mensch ist bereits seit vierzig Jahren im All unterwegs, aber wenn es dann mal so richtig schneit, weiß er auch nicht weiter. Ein ganzes Jahr war Zeit, um Salz zu kaufen, hört man den ein oder anderen nörgeln. Ist man zu Hause angekommen, interessiert es eh nicht mehr; und mein persönlicher Zorn zeigt sich in strafender Ignoranz dem Schienenwesen gegenüber. 

Der Weihnachtsabend an sich zeigt sich bescheiden. Ein Baum wird aufgestellt und Frieden kehrt ein. Doch die Ethnologie, die Anthropologie und auch die Religionswissenschaft machen vor diesem Datum nicht Halt. Ich bin im ersten Semester und hoffe daher, behaupten zu können, dass ich noch nicht das sein kann, was man gerne als Fachidioten bezeichnet. Und doch wird der diesjährige Kirchgang mehr zu einer Gesellschaftsstudie ganz im Sinne meines Studienganges; ich beobachte viel mehr, als dass ich mich in Weihnachtsstimmung verzaubern lasse; und während ich mich mit einer Gemeinde gläubiger Protestanten auf hölzernen Kirchenbänken quetsche und den heiligen Worten eines Pfarrers lausche, analysiere ich und mein vergleichende-Kultur- und-Religionswissenschaften-geprägtes Hirn arbeitet fleißig; die Hermeneutik hört vor der Kirchentür nicht auf, ich gucke und blicke und erkenne Züge meines Studiums in jedem kleinsten Detail. Ob es den Mathematikern, den Physikern und Chemikern genau so geht? Läuft ihr Denkapparat auch gerade auf Hochtouren, hier, in dieser Kirche im Ruhrgebiet? 
Und was macht ein Mensch, der noch nie von Anthropologie gehört hat? Wie sieht sein Leben aus? Auf einmal wird mein Studium ganz existenziell, denn es bestimmt nicht nur mein zukünftiges Berufsleben, sondern auch meine Weltanschauung und Lebensbetrachtung. 
Das ist alles ein bisschen viel auf einmal. „Gehet hin in Frieden“, sagt der Pfarrer schließlich und entlässt  uns mit segnenden Worten. Ich hingegen muss an die verschiedenen Definitionen von Frieden denken, die man mich in der Friedens- und Konfliktforschung lehrte. Leicht benommen von so viel unerwartetem Studium verlasse ich das Gotteshaus. 

Während mir aber vor Weihnachten der Atem stockt, so habe ich – wenn wir bei diesem Bild bleiben - nach dem so genannten Fest der Liebe endlich die Zeit, so richtig ausgiebig zu atmen. Doch diese wenigen Tage nach Weihnachten sind es, die einem zu Verstehen geben, dass die Zeit auch von ganz allein vorbei geht. Ein wenig ratlos stehe ich da, die Taschen voller Zeit, aber sie zu nutzen habe ich verlernt. Bitter stelle ich am 28. Dezember fest, dass ich diese wertvollen Tage des ungezwungenen Daseins habe verstreichen lassen. 

Und dennoch gehe ich nicht leer aus; die ersten drei Monate meines Studiums haben mich schon jetzt auf viele Dinge aufmerksam gemacht, die ich zuvor als selbstverständlich oder unwichtig verstand; wer weiß, wie es mir nach einem weiteren oder gar fünf anthropologischen Jahren ergeht? Ich bin gespannt; und kann deshalb auch vollkommen zufrieden in ein neues Jahr aufbrechen.

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